Das Zentrum für Psychotraumatologie e.V. Kassel feiert dieses Jahr gleich zwei Jubiläen:
Die Gründung des Zentrums vor 25 Jahren / 20 Jahre Fachfortbildungsreihe im Zentrum
Interview mit Friedegunde (Gundi) Bölt, Gründungsmitglied
Zentrum für Psychotraumatologie(ZP): Gundi Bölt, am 20.11.1998 wurde das Zentrum für Psychotraumatologie e.V. Kassel gegründet. Du bist Gründungsmitglied. Wie kam es zur Gründung?
Gundi Bölt (GB): Hintergrund war die Frage, wie traumatisierten Frauen in der Psychiatrie geholfen werden könnte, die oftmals durch die Behandlung selbst retraumatisiert werden (geschlossene Stationen, Zwangsbehandlungen…). Dazu traf sich 1998 sich ein recht großer Arbeits-Kreis von Kolleginnen in den Gebäuden des Gesundheitsamts des Landkreis Kassel.
ZP: Welche Institutionen bzw. waren da denn mit dabei?
GB: Das waren unter anderem FiF, das Frauenhaus, die Kasseler H!LFE; außerdem verschiedene Beratungsstellen (AWO, Caritas,…), psychiatrische Ambulanzen und weitere.
ZP: Was hat der Arbeitskreis unternommen?
GB: Wir erarbeiteten Konzepte zur Vernetzung mit verschiedenen Institutionen, die damals in ihrem Arbeitsalltag mit traumatisierten Menschen zu tun hatten. Es entstand daraus eine Info-Broschüre, zunächst für traumatisierte Frauen. Außerdem wurde ein Konzept für eine Trauma-Akutstation geschrieben und bei den damaligen Klinikleitern der hiesigen Psychiatrien eingereicht, die aber damals nicht realisiert wurden. Sehr schnell wurde deutlich, dass es vor Allem im Bereich der Prävention Versorgungslücken gibt: Wer informiert und begleitet Menschen, die einem traumatogen wirkenden Ereignis ausgesetzt waren, damit ihnen spätere Symptombildungen, Chronifizierungen, Psychiatrisierungen erspart bleiben? So entstand auch ein Arbeitskreis zur Gründung eines Psychotraumazentrums in Anlehnung an das erste Zentrum für traumatisierte Menschen in Frankfurt. Unser Konzept nahm sehr schnell und leichtfüßig realistische Gestalt an.
ZP: Das heißt, es entstand sozusagen ein Arbeitskreis im Arbeitskreis, der dann zur Gründung des Zentrums für Psychotraumatologie e.V. führte?
GB: Ja, genau so. Dann ging es Schlag auf Schlag. Am 20.11.1998 fand die Gründungsversammlung für das Traumazentrum statt, am 18.02.1999 wurde die Satzung verabschiedet, am 18.05.1999 erhielten wir die Anerkennung als gemeinnütziger und mildtätiger Verein, die erste ordentliche Vereinssitzung fand statt und im September 1999 bezogen wir die Räume in der Ludwig-Mond-Straße.
Es wurde seit der Gründung sehr schnell deutlich, dass ein Traumazentrum nicht ein reines Frauenprojekt sein kann:
Arbeitsgruppen entstanden, z.B. die Physiotherapeutinnen wollten sich vernetzen, eine AG wollte sich um Behandlungskonzepte für traumatisierte Männer kümmern, ein Beratungsteam tat sich zusammen, und erste Ideen entstanden für Gruppen, die zu wichtigen Themen einen Fachaustausch initiierten.
ZP: Das alles fand ehrenamtlich statt?
GB: Ja, zunächst ausschließlich ehrenamtlich, obwohl unser Bestreben von Anfang an war, dass Arbeit auch bezahlt werden muss. In 2000 und 2002 erhielten wir unsere ersten ABM-Stellen, die zunächst viel mit Vereinsorganisation, Geldbeschaffung und Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt waren.
ZP: Eine der wichtigen Säulen heute ist die Fachberatungsstelle für Menschen mit traumatischen Erlebnissen. Wie kam es dazu?
GB: Das Beratungsteam, das sich sehr bald schon gründete, wurde aktiv, bildete sich fort, suchte sich Supervision und begann, sich mit Anfragen von Betroffenen auseinanderzusetzen und fachlich kompetente Beratung anzubieten: So gibt es seither vor allem persönliche Beratung, sowie regelmäßig Stabilisierungsgruppen: gemeinsames Wandern und Gärtnern, Traumasensitives Yoga, Klettern, Empowerment… Akut- und Krisenintervention wird genauso geleistet, wie Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Hilfsangeboten oder passenden Traumatherapieplätzen.
ZP: Die Suche nach geeigneten Traumatherapieplätzen gestaltet sich zunehmend schwierig, so dass wir heute zwar wissen, welche Therapeut*innen entsprechend weitergebildet sind – unterstützen im Sinne von einen Therapieplatz beschaffen können wir jedoch nicht. Klient*innen verzweifeln regelmäßig an langen Wartezeiten, die je nach Schwere des Traumas viele Monate oder sogar Jahre dauern können. Wie war das damals? Siehst Du eine Veränderung zu heute?
GB: Damals gab es nur sehr wenige Traumatherapeut*innen, aber mehr und mehr Motivation, die Ausbildung in EMDR oder ähnlichen Verfahren zu machen, so dass Kassel ca. 10 Jahre lang in einer recht privilegierten Situation war, gemessen an anderen Städten und Regionen.
ZP: Eine weitere wichtige Säule war von Anfang an auch die Fachfortbildung. Wie kam es dazu?
GB: Anfangs gab es Mittwochsvorträge. In den stets gut besuchten und fachlich hochkarätigen Veranstaltungen vermittelten wir zunächst die Basics aus der Traumaforschung, wendeten uns dann später spezielleren Themen zu und motivierten so einen interessierten Kolleg*innenkreis für Zusatzfortbildungen in Traumatherapie. Gleichzeitig kamen ein Viertel der Anrufe von niedergelassenen Kolleg*innen, die für ihr traumatisiertes Klientel Unterstützung suchten. So entstand der Gedanke und die Notwendigkeit, intensivere Fortbildung anzubieten.
ZP: Wann fand die erste Fortbildung statt?
GB: Die Idee einer Fachfortbildungsreihe wurde 2004 geboren und umgesetzt: Seither haben viele KollegInnen aus dem gesamten Bundesgebiet bei uns das Zertifikat: „FachberaterIn Psychotraumatologie“ in einer Jahresgruppe erworben. Themen der Jahresfortbildung sind: „Grundlagen der Psychotraumatologie“, „Spezielle Beratungsansätze für traumatisierte Menschen“, „Rechtliche und gesellschaftliche Fragestellungen rund um die Psychotraumatologie“, „Selbstfürsorge“. Es gibt Sonderseminare, die unabhängig von der Jahresfortbildung gebucht werden können: Arbeit mit Menschen, die sich selbst verletzen, mit traumatisierten Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Möglichkeiten des Einsatzes von Körperarbeit in das Beratungssetting, die speziellen Herausforderungen der Arbeit mit DIS-Klient*innen, was bedeutet Schmerz im Kontext von traumatisierenden Erfahrungen, wie werden Traumata an die nächste Generation weitergegeben, wie wirken sich traumatisierende Situationen unter der Geburt aus.
ZP: Die Fortbildung war die eine der erste dieser Art in Deutschland und ist von der DeGPt zertifiziert. Magst Du dazu etwas sagen?
GB: Wir haben sehr darum gerungen, dass diese Beratungsfortbildung gerade auch Nicht-akademischen Berufsgruppen zur Verfügung steht. Berater*innen, Erzieher*innen, Pflegefachkräfte, Einsatzkräfte, Physiotherapeut*innen… sie alle begegnen in ihrem Berufsalltag immer wieder auch traumatisierten Menschen. Da ist es so wichtig und notwendig, dass es ein Grundlagenwissen in Psychotraumatologie gibt und sie wissen, wie sie den Kontakt und die Begleitung traumasensibel gestalten können. Inzwischen gibt es glücklicherweise bundesweit viele Institute, die diese spezielle Fachfortbildung in psychotraumatologischer Beratung anbieten.
ZP: Wie sieht die Zukunft der Fachfortbildung aus?
GB: Ab 2025 wird es ein spezielles, erweitertes Fortbildungscurriculum geben, zusätzlich auch für KollegInnen, die im Kinder- und Jugendlichenbereich arbeiten. Und das Referent*innenteam wird sich verändern, einige der Gründungsmitglieder geben die Fachfortbildung an die nächste Generation von Referent*innen weiter.
ZP: Wenn Du zurück blickst auf die Anfänge: Welche der Ursprungsideen wurden umgesetzt? Was hat sich insgesamt an der Situation traumatisierter Menschen verändert? Und wo siehst Du heutzutage Herausforderungen und Aufgaben?
GB: Ich hatte immer gehofft, dass die Grundsätze der Psychotraumatologie eines Tages zum Allgemeinwissen gehören und spezifische Fragestellungen dazu in den Ausbildungscurricula Eingang finden würden, so dass unsere zusätzlichen Angebote irgendwann überflüssig wären. Im Ansatz ist einiges davon tatsächlich inzwischen Realität geworden. Allerdings hat die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema dazu geführt, dass der Traumabegriff inzwischen sehr inflationär benutzt wird und für alle Lebensbelastungen angewendet wird. Da wäre eine Nachbesserung vor allem in den Medien sicher hilfreich.
Wir in Kassel haben inzwischen den Blick auf dieses Themenfeld der Psychotraumatologie deutlich erweitert, indem wir Seminare zu rechtlichen Aspekten anbieten, zu gesellschaftlichen und sozialpolitischen Themen rund um das Psychotrauma, ebenso wie geschichtliche und soziologische Fragestellungen. Das können fachliche Curricula vielleicht nicht leisten, sodass es diese Zusatzfortbildungen auch weiterhin geben wird und vielleicht auch muss.
ZP: Vielen Dank