Inner Safety

5 Jahre „Inner Safety“ – Einfüh­rung in die Psychotraumatologie

Ein persön­li­cher Erfah­rungs­be­richt von Sabine Schrader

Wie alles begann

2015 – Zahlen beherrsch­ten die Schlag­zei­len – jeden Tag neue. Wie viele Geflüch­tete waren einge­reist? Kaum schaff­ten es andere Themen in die Schlag­zei­len. Es gab ein deut­li­ches „dafür“ oder „dage­gen“, viele konsta­tier­ten eine Spal­tung der Gesell­schaft. Schnell musste auf eine bisher noch unbe­kannte Situa­tion reagiert werden. Es gab viele Menschen, die so viel Kraft und Ener­gie in die Arbeit geben (muss­ten), dass sie selbst keine Kraft mehr hatten und an ihre Gren­zen kamen und es gab viele Menschen, die kaum in die Arbeit invol­viert waren und immer wuss­ten, was man hätte besser machen können und viele stöhn­ten „Ich kann das Thema nicht mehr hören….“.

In dieser Situa­tion erreichte uns (die Mitarbeiter*innen des Zentrums für Psycho­trau­ma­to­lo­gie e.V. Kassel) die Anfrage, ob es nicht möglich sei, „spezi­ell etwas für Geflüch­tete“ anzu­bie­ten. Seit Grün­dung des Zentrums können Menschen unab­hän­gig von Geschlecht und Herkunft die Ange­bote wahr­neh­men, und immer wurden diese Ange­bote ausschließ­lich aus eige­nen Einnah­men (aus der Fach­fort­bil­dung) und weni­gen Spen­den- bzw. Stif­tungs­gel­dern finan­ziert – es gab nie eine regel­hafte Finan­zie­rung über öffent­li­che Haus­halte, was dazu führte, dass die Bera­tun­gen kosten­pflich­tig waren und sind. Niemand musste aus finan­zi­el­len Grün­den auf Bera­tun­gen verzich­ten, denn für dieje­ni­gen, die ein sehr nied­ri­ges Einkom­men hatten wurden die Beiträge aus Spen­den ersetzt. Hätten wir nun ein aus öffent­li­chen Geldern finan­zier­tes Bera­tungs­an­ge­bot ausschließ­lich für Geflüch­tete geplant, so hätte dies dazu geführt, dass die Bera­tun­gen für geflüch­tete Menschen kosten­frei gewe­sen wären, während alle ande­ren bezah­len müss­ten. Wir woll­ten keine Spal­tung erzeu­gen im eige­nen Angebot.

Die bundes­weit erste zerti­fi­zierte „Fach­fort­bil­dung zur / zum Fachberater*in für Psycho­trau­ma­to­lo­gie“ wurde von den Mitar­bei­te­rin­nen und Grün­de­rin­nen des Zentrums konzi­piert und durch­ge­führt – damals wie heute war und ist „Psycho­trau­ma­to­lo­gie“ nicht / kaum Inhalt der Ausbil­dun­gen und Studi­en­gänge für die sozia­len, helfen­den und thera­peu­ti­schen Berufe. Kennt­nisse darüber sind kaum vorhan­den, wenn sich die Ange­hö­ri­gen dieser Berufs­grup­pen nicht selbst entspre­chend fort­bil­de­ten; ein großes Versäum­nis in Anbe­tracht der Tatsa­che, dass Trau­ma­fol­ge­sym­ptome aller Art (beson­ders unter Einbe­zie­hung der trans­ge­ne­ra­tio­na­len Weiter­gabe, sowie der Bindungs­stö­run­gen) Inhalt der tägli­chen Arbeit in diesen Beru­fen sind.

Auch ich hatte an dieser Fach­fort­bil­dung teil­ge­nom­men – es war eine von vielen in einem langen Sozi­al­ar­bei­te­rin­nen­le­ben und dieje­nige, von der ich am meis­ten profi­tierte, persön­lich und in der Arbeit. Es war so hilf­reich gewe­sen, endlich Zusam­men­hänge besser zu verste­hen und „Hand­werks­zeug“ zu bekom­men, aber auch Möglich­kei­ten und Gren­zen Betrof­fe­ner und eigene Möglich­kei­ten und Gren­zen deut­li­cher wahrzunehmen.

2015 muss­ten Unter­künfte, Jugend­wohn­grup­pen, Bera­tungs­stel­len, Ehren­amts­ar­beit schnells­tens etabliert und koor­di­niert werden. Viele Menschen arbei­te­ten am eige­nen Limit. Natür­lich gab es viele Ressour­cen, viele Fähig­kei­ten, viel Mitmensch­lich­keit und Zuwen­dung, aber auch viel Stress. Der Hoch­stress der Mitar­bei­ten­den traf den Hoch­stress der Geflüch­te­ten. Hinter vielen „norma­len“ Stress­re­ak­tio­nen wurde sofort eine „Trau­ma­ti­sie­rung“ vermu­tet und tatsäch­li­che Trau­ma­fol­ge­sym­ptome blie­ben even­tu­ell uner­kannt. Es kam manch­mal auch zu eher kontra­in­di­zier­ten Inter­ven­tio­nen. In dieser Situa­tion war es wich­tig, Betrof­fe­nen und Mitar­bei­ten­den zumin­dest Grund­kennt­nisse zum Thema zu vermit­teln, um zu mehr Klar­heit zu kommen. So entstand das Konzept für das Projekt „Inner Safety“ das dann am 01.04.2016 star­tete. Das Gefühl „inne­rer Sicher­heit“ auch in Hoch­stress­zei­ten (wieder) zu erlan­gen oder zu halten – dazu braucht es zunächst einmal die Möglich­keit, eigene Symptome und die der ande­ren besser zu verste­hen und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten zu entwi­ckeln. Psycho­edu­ka­tion ist wich­tig, denn das Verste­hen erleich­tert den Umgang. Selbst­ver­ständ­lich kann ein Tag nicht eine einjäh­rige Fort­bil­dung erset­zen, aber Grund­kennt­nisse, Symptome und Zusam­men­hänge können erklärt werden.

„Einfüh­rung in die Psycho­trau­ma­to­lo­gie” – bundes­weit als kosten­freie Inhouse-Schu­lung möglich.

Finan­ziert aus dem „Akut­pro­gramm“ des Bundes­mi­nis­te­ri­ums für Fami­lie, Senio­ren, Frauen und Jugend in Koope­ra­tion mit dem Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­band in Berlin, bietet das Projekt mit einer 32-Stun­den Stelle die Möglich­keit, Trägern sozia­ler Arbeit und BiIdungs­trä­gern bundes­weit eine kosten­freie eintä­gige Schu­lung für die Mitar­bei­ten­den zum Thema „Einfüh­rung in die Psycho­trau­ma­to­lo­gie – mit beson­de­rem Blick auf ‚Flucht und Trauma‘“ anzu­bie­ten. Es geht um die Vermitt­lung von Grund­kennt­nis­sen zum Thema für Menschen, die sich bisher kaum damit beschäf­tigt haben oder die sich eine „Auffri­schung“ ihrer Grund­kennt­nisse wünschen. Um Stabi­li­sie­rungs­tech­ni­ken und Inter­ven­ti­ons- sowie Bera­tungs­mög­lich­kei­ten kennen- und anwen­den zu lernen, wäre die Fach­fort­bil­dung der rich­tige Rahmen. Weiter­hin werden Fach­be­ra­tun­gen ange­bo­ten (die sich meist aus den Veran­stal­tun­gen erge­ben), sowie Bera­tun­gen in akuten Situa­tio­nen oder Grup­pen­an­ge­bote für Betrof­fene, Sprachmittler*innen etc.

Trau­ma­ti­sie­run­gen betref­fen Menschen zunächst einmal glei­cher­ma­ßen, so dass die Themen „Defi­ni­tion, Neuro­lo­gie, PTBS, stabi­li­sie­rende und desta­bi­li­sie­rende Fakto­ren….“ unab­hän­gig von der Herkunft gleich sind. Für Geflüch­tete gibt es zusätz­lich wich­tige Themen­be­rei­che, es bestehen hinsicht­lich der Hilfs­an­ge­bote Beson­der­hei­ten, und die Gruppe der soge­nann­ten „unbe­glei­te­ten minder­jäh­ri­gen Jugend­li­chen“ bedarf z.B. einer beson­de­ren Betrachtung.

Mitar­bei­tende im Span­nungs­feld von Bedar­fen, Möglich­kei­ten, Gren­zen und Resilienz

In den ersten zwei bis drei Jahren wurde ich über­wie­gend von Trägern soge­nann­ter „UmA-Grup­pen“, Bera­tungs­stel­len, Ehren­amts­ver­bän­den, Gemein­schafts­un­ter­künf­ten, Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen angefordert.

Inzwi­schen sind es zusätz­lich vermehrt Einrich­tun­gen, in denen Geflüch­tete nun „ankom­men“, Jobcen­ter, Bildungs­trä­ger, Jugend­äm­ter, Land­kreis- und Stadt­ver­wal­tun­gen, Pfle­ge­kin­der­dienste, Kitas, Jugend­hil­fe­trä­ger, Psycho­so­ziale Dienste, etc. die sich freuen, dass es das Ange­bot einer kosten­freien Schu­lung gibt, denn der Bedarf an Fort­bil­dung zu diesem Thema ist groß, die finan­zi­el­len Mittel dafür sind es eher nicht.

In den ersten Jahren wurde in den Veran­stal­tun­gen sehr deut­lich, wie belas­tend die Arbeit für die ehren- und haupt­amt­li­chen Mitar­bei­ten­den in der Arbeit mit Geflüch­te­ten ist. In den Gesich­tern der Teil­neh­men­den war die Erschöp­fung zu sehen und es war bei eini­gen Menschen deut­lich zu Retrau­ma­ti­sie­run­gen, Sekun­där­trau­ma­ti­sie­run­gen und Burn-out Verläu­fen gekom­men. Spätere Erhe­bun­gen und Unter­su­chun­gen zu diesen Themen bestä­tig­ten dies. Der Kran­ken­stand in den Einrich­tun­gen war vergleichs­weise hoch, die, die noch arbei­te­ten, muss­ten jeweils für die nicht Anwe­sen­den mitar­bei­ten, und nach eini­ger Zeit zogen sich einige sowohl ehren- als auch haupt­amt­li­che Mitar­bei­tende erschöpft aus der Arbeit zurück. Wie wich­tig die Selbst­für­sorge, der Selbst­schutz gerade in solch fordern­den Arbeits­be­rei­chen ist, wurde unter­schätzt – etwas was in den helfen­den und sozia­len Beru­fen häufig passiert.

Auch heute ist den Teil­neh­men­den an den Veran­stal­tun­gen noch die Anstren­gung anzu­mer­ken und vor allem auch das Gefühl „gegen Wind­müh­len“ zu arbei­ten. Zuviel Bedarf – zu wenig Hilfs­an­ge­bote – auch das ein perma­nen­tes Thema in diesen Beru­fen. Viele Ressour­cen, viel Kompe­tenz und Enga­ge­ment ist in diesen Arbeits­be­rei­chen zu finden und auch die Schwie­rig­keit Resi­li­enz zu erhal­ten und zu stärken.

Trau­ma­the­ra­pie ist Mangelware

Unter neun Mona­ten Warte­zeit gibt es kaum eine Möglich­keit einen Thera­pie­platz bei ausge­bil­de­ten Traumatherapeut*innen zu bekom­men, meist dauert es deut­lich länger. Warte­zei­ten für statio­näre Behand­lun­gen in fach­spe­zi­fi­schen Akut- oder Reha­kli­ni­ken sind eben­falls sehr lang – und dies gilt für Menschen, die Deutsch als Mutter­spra­che haben oder zumin­dest sehr gut Deutsch spre­chen. Für Menschen, die über diese Sprach­kennt­nisse nicht verfü­gen und/oder deren Aufent­halts­sta­tus noch nicht gesi­chert ist, gibt es kaum Thera­pie­plätze. Viele Menschen, die ehren- oder haupt­amt­lich mit Geflüch­te­ten arbei­ten, bemer­ken die Stress­sym­ptome und die Auswir­kun­gen auf das alltäg­li­che Leben und viele wünschen sich eine sofor­tige „Trau­ma­the­ra­pie zur Verar­bei­tung“ für Betrof­fene, doch „Verar­bei­tung“ wäre für viele Menschen noch nicht möglich – erst einmal geht es häufig um Stabi­li­sie­rung – auch um Stabi­li­sie­rung der Lebens­um­stände, der sozia­len Kontakte etc….Hier schließt sich der Kreis, denn um die Stabi­li­sie­rung der Lebens­um­stände zu verbes­sern und um inter­kul­tu­rell stress­re­du­zie­rende Stabi­li­sie­rungs­tech­ni­ken zu vermit­teln, wären mehr Ausbil­dung, bessere Arbeits­be­din­gun­gen und indi­vi­du­el­lere Inter­ven­ti­ons­mög­lich­kei­ten von Nöten – gene­rell und erst recht in der Arbeit mit Geflüchteten.

Aktu­elle Situation

Die Zeit der täglich in den Medien erschei­nen­den Zahlen und Berichte zum Thema „Flucht“ ist vorbei – aktu­ell beherr­schen andere Zahlen die Schlag­zei­len. Viele Struk­tu­ren sind erschaf­fen worden, Verwal­tungs­wege schein­bar geklärt. Bei eini­gen Geflüch­te­ten, die inzwi­schen äußer­lich stabi­lere Lebens­um­stände haben, können sich nun Symptome zeigen, die in der Zeit des Dauer­stress­pro­gram­mes nicht „auftau­chen“ konn­ten; viele andere Menschen sind inzwi­schen ange­kom­men. Menschen, die jetzt noch in Deutsch­land aufge­nom­men werden, haben häufig sehr lange Flucht­wege hinter sich, nicht selten mit langen Aufent­hal­ten in über­füll­ten Flücht­lings­la­gern wie Moria. Selbst wenn es einmal viele Ressour­cen und Resi­li­enz in Menschen gab – nach langen Aufent­hal­ten an solchen Orten sind sie verbraucht. Dies gilt insbe­son­dere für Kinder und Jugend­li­che, die in diesen kata­stro­pha­len Lebens­um­stän­den „reifen“ sollen. Wenn sie es schaf­fen, hier anzu­kom­men, zeigen sie häufig nicht „nur“ deut­li­che Symptome teil­weise auch komple­xer Post­trau­ma­ti­scher Belas­tungs­stö­run­gen, sondern leiden zusätz­lich schon unter weite­ren seeli­schen und körper­li­chen Erkran­kun­gen. Es ist häuf­ger mit länge­ren Verläu­fen und Bedarf nach Stabi­li­sie­rungs­tech­ni­ken und Thera­pie­mög­lich­kei­ten (insbe­son­dere für Kinder und Jugend­li­che) zu rechnen.

Ausblick und Dank

Die Folgen solcher und ähnli­cher Erkran­kun­gen werden immer Inhalt und Aufgabe der sozia­len, helfen­den und thera­peu­ti­schen Berufe sein. Um diesen Anfor­de­run­gen gewach­sen zu sein, brau­chen Mitar­bei­tende stabile gute Arbeits­be­din­gun­gen, denn nur wenn sie selbst über Stabi­li­tät und Resi­li­enz verfü­gen, können sie zur Stabi­li­tät und Resi­li­enz ande­rer Menschen beitra­gen. Und Wissen zum Thema ist die Grund­vor­aus­set­zung für ein siche­res Gefühl in der Arbeit. Auch in ande­ren Zusam­men­hän­gen, wie beispiels­weise in der Arbeit mit Opfern sexua­li­sier­ter Gewalt und/oder häus­li­cher Gewalt, Mobbing­op­fern etc. wird immer wieder deut­lich, wie wich­tig es wäre, Trauma und Traum­fol­ge­sym­ptome, Stabi­li­sie­rungs­tech­ni­ken etc. obli­ga­to­risch in die Ausbil­dungs- und Studi­en­gänge aufzu­neh­men, insbe­son­dere auch für Mitar­bei­tende in Kita’s und Schu­len. Solange dies noch nicht der Fall ist bietet die „InnerSafety”-Schulung einen ersten Einblick in das Thema – weite­res WIssen und „Hand­werks­zeug” kann dann die Fach­fort­bil­dung vermit­teln. Wissen zum Thema „Trauma und Trau­ma­fol­ge­sym­ptome“, sowie zu den Stabi­li­sie­rungs­mög­lich­kei­ten sollte zur Grund­aus­bil­dung gehö­ren, damit mehr innere Sicher­heit bei Mitar­bei­ten­den und somit auch bei Betrof­fe­nen erreicht werden kann.

Inso­fern hoffen wir auf Weiter­füh­rung und Ausbau des Program­mes und darauf, unse­ren Teil zur Vermitt­lung von mehr „Inner Safety“ beizutragen.

Heute danke ich zunächst einmal von ganzem Herzen meinen Kolleg*innen vom Zentrum für Psycho­trau­ma­to­lo­gie e.V. in Kassel, dass sie dieses Projekt ermög­li­chen und unter­stüt­zen und durch stür­mi­sche Zeiten beglei­ten und selbst­ver­ständ­lich auch den Mitar­bei­te­rin­nen des Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­ban­des in Berlin, ohne die wir nicht die Mittel aus dem Akut­pro­gramm des Minis­te­ri­ums für Fami­lie, Senio­ren, Frauen und Jugend bekom­men würden. Ich hoffe auf mehr „Inner Safety“ mit euch/Ihnen.

 

Kassel, im Juni 2021

Sabine Schr­a­der